Logo Regionale Entwicklungsagentur für kommunales Bildungsmanagement NRW, zur Startseite

Bildung braucht Kommune und Zivilgesellschaft – Von guten Ansätzen und alten Mustern

Sabine Süß und Christina Wieda (Fotonachweis: © Ansichtssache_Britta_Schroeder/Bertelsmann Stiftung)

Mit dem Startchancen-Programm verfolgen Bund und Länder das Ziel, Bildungsungleichheiten gezielter zu verringern. Über einen Zeitraum von zehn Jahren sollen insgesamt 20 Milliarden Euro investiert werden, insbesondere in Schulen mit einem hohen Anteil sozioökonomisch benachteiligter Schüler:innen. Vorgesehen sind unter anderem zusätzliche Stellen für multiprofessionelle Teams, Investitionen in Schulgebäude sowie die Stärkung der Schulentwicklung vor Ort. 

Die Umsetzung des Programms trifft vielerorts – etwa im Ruhrgebiet – auf ein Bildungssystem, das seit Jahren unter erheblichen strukturellen und sozialen Herausforderungen steht. Zugleich ist die Zusammenarbeit zwischen Bund, Ländern, Kommunen und zivilgesellschaftlichen Akteuren, seit Langem Gegenstand bildungspolitischer Debatten. Gerade, wenn es um die konkrete Ausgestaltung vor Ort geht, werden vorhandene Kompetenzen und Potenziale bislang oft unzureichend eingebunden. 

Wie also blicken zivilgesellschaftliche Akteur:innen auf den aktuellen Stand – nicht nur des Programms, sondern des Bildungssystems insgesamt? Und welche Rolle spielen sie in der praktischen Umsetzung vor Ort? Die REAB NRW sprach mit Sabine Süß (Leitung der Koordinierungsstelle Netzwerk Stiftungen und Bildung) und Christina Wieda (Senior Project Managerin mit Schwerpunkt Kommunale Koordinierung in der Bertelsmann Stiftung) über das Startchancen-Programm – und darüber, wie entscheidend kommunale Akteure für den Bildungserfolg sind, aber an vielen Stellen nach wie vor zu wenig eingebunden werden. Beide Expertinnen sind Mitglieder im Beirat der REAB NRW.

 

REAB NRW: Mit welcher Perspektive schauen Sie – auch im Austausch mit kommunalen Partner:innen – auf die derzeitige Umsetzung des Startchancen-Programms? 

C. Wieda: Ich habe aktuell den Eindruck, dass die geäußerte Kritik der Kommunen – die bei der Programmkonzeption und -gestaltung unzureichend beteiligt worden sind, weiterhin besteht. Das Gefühl bleibt: Eine zentrale Akteursgruppe wird in ihrer Rolle unterschätzt und in ihren Kompetenzen nicht einbezogen – was für viele kommunale Vertreter:innen frustrierend ist. 

S. Süß: Mit dem Programm waren viele Erwartungen und Hoffnungen verbunden – auch auf Seiten der Zivilgesellschaft, die auf der lokalen Ebene unterwegs sind. Die Hoffnung war, dass das Programm auch als Chance verstanden wird, Schule im Sozialraum gemeinsam mit verschiedenen Akteuren weiterzuentwickeln. Aktuell erleben wir aber vor allem einen Mangel an Transparenz: Was passiert wann und mit welchem zeitlichen Horizont? Zwar wird von den Steuerungsebenen betont, dass das Programm auf zehn Jahre angelegt ist. Doch das erste Jahr ist bereits vergangen, und ich sehe nicht, dass die zweite Gruppe von Schulen nennenswert von den bisherigen Erfahrungen profitieren kann. Die kommunale Ebene wird wenig – zivilgesellschaftliche Akteure punktuell – eingebunden, wenn es gerade passt. Das wird als frustrierend wahrgenommen, denn es wiederholen sich bestimmte Muster: Zivilgesellschaft wird als Dienstleister oder Lückenfüller verstanden, nicht als unmittelbarer Teil einer lokalen Bildungslandschaft. Insbesondere bei zivilgesellschaftlichen Organisationen, die sich freiwillig engagieren und aus einer hohen intrinsischen Motivation aktiv werden, besteht die Gefahr, dass nicht wahrgenommen wird, was sie bereits im Sozialraum leisten. So wird es aus meiner Sicht aktuell sehr schwer, den tatsächlichen Mehrwert – den ‚Nektar‘ – aus dem Startchancen-Programm zu schöpfen, der in ihm eigentlich steckt.

 

REAB NRW: Wie kann es trotz gewachsener Strukturen und föderaler Spannungsfelder gelingen, gemeinsame Lösungen im Bildungsbereich zu entwickeln – die dem Startchancen-Programm zugutekommen? 

S. Süß: Ein zentrales Problem ist, dass bestimmte Perspektiven im Bildungssystem weiterhin marginalisiert werden – und dadurch regelrecht „verschütt gehen“. Das liegt auch daran, dass Bildung in Deutschland nach wie vor sehr stark mit Schule gleichgesetzt wird – und zwar in einem engen, formalen Sinn. Diese Engführung wirkt besonders in einem föderalen System problematisch, in dem Bund und Länder oft nebeneinanderher agieren, statt gemeinsam etwas Neues zu schaffen. Es gibt eine gewachsene strukturelle Ungereimtheit im Zusammenspiel von Ländern und Bund, die echte Neuerungen erschwert. Genau hier zeigt sich auch ein grundlegendes Problem im Startchancen-Programm: Es trägt – so der Eindruck – einen systemischen Geburtsfehler in sich. Denn viele Länder scheinen eher den Status quo weiterhin absichern zu wollen, statt sich aktiv für Veränderung zu öffnen. Die notwendige Bereitschaft zum Wandel bleibt damit deutlich hinter der Einsicht zurück, dass dieser Wandel notwendig wäre.

C. Wieda: Die Probleme im Bildungssystem spiegeln sich auch im Startchancen-Programm wider. Es ist dringend notwendig, die konkreten Herausforderungen auf kommunaler Ebene stärker in die Ausgestaltung des Programms einzubeziehen. Schauen wir uns etwa Integration und Wohlbefinden an, landen wir schnell bei dem, was Peter Strohmeier, Aladin El-Mafalani und Sebastian Kurtenbach als „Superdiversität“ beschreiben (Anmerk. d. Redaktion: „Kinder – Minderheit ohne Schutz“, 2025). Dieses Thema ist zentral – und dennoch wird es oft nicht als bildungsinhärente Aufgabe verstanden. Stattdessen werden die Folgen bildungsbezogener Benachteiligung durch Diversität an schulische oder kommunale Strukturen der Jugendhilfe, aber auch des SGB II delegiert. Das greift zu kurz. Diversität gehört ins Zentrum schulischer Konzepte. 

Auch Spracherwerb und familiäre Unterstützung sind Teil schulischer Bildung. Wir wissen, dass die familiäre Begleitung, die in Deutschland lange Voraussetzung für den schulischen Erfolg von Kindern war, zunehmend bröckelt – etwa durch doppelte Berufstätigkeit, sprachliche Hürden oder mangelnde Kenntnisse des Schulsystems, insbesondere in Familien mit Migrationsgeschichte. 

Der Spracherwerb der Eltern – insbesondere der Mütter – ist entscheidend, um Kinder zu unterstützen. Doch aus Kommunen höre ich immer wieder, dass BAMF-Sprachkurse am Bedarf vorbeigehen. Da die Verträge direkt mit den Trägern abgeschlossen werden,  fehlen der Kommune Steuerungsmöglichkeiten. 

Auch der frühkindliche Spracherwerb über den Besuch der KiTa ist zentral. Doch aktuelle Zahlen aus dem Bildungsbericht Ruhr 2024 sind ernüchternd. Viele Kinder starten ohne ausreichende sprachliche und soziale Fähigkeiten in die Schule, weil sie keine Kita oder diese nur unzureichend besucht haben. Dieser Bogen zeigt: Eine systematische Zusammenarbeit von Schule, Jugendhilfe, Kommunen und Trägern ist – gerade vor dem Hintergrund knapper Ressourcen – dringend erforderlich.

S. Süß: Ich nenne das die Kettenreaktion. Und Frau Wieda hat das exakt beschrieben: Soziale Herkunft bestimmt den Bildungserfolg. Das wird häufig mit finanzieller Ausstattung in Verbindung gebracht – aber es geht deutlich weiter. In unserem Netzwerk haben wir den Alfa-Selbsthilfe Dachverband e.V., dort organisieren sich funktionale Analphabeten selbst. Und die betonen immer wieder: Wir können unsere Kinder in der Schule nicht angemessen begleiten – nicht, weil wir nicht wollen, sondern weil wir es schlicht nicht können. Und genau dadurch setzt sich dieser Kreislauf fort – eine Kettenreaktion von Misserfolg. In unserem formalen Bildungssystem ist es nicht vorgesehen, dass es Brüche geben darf, dass Menschen auch später wieder einsteigen könnten, wenn sie früher ausgestiegen sind. Stattdessen folgt unser System einer festen, linearen Taktung. Zudem beobachten wir, dass sich die Bedingungen weiter verschlechtern werden, weil Bildung in Deutschland nicht den Stellenwert hat, den sie bräuchte, um mit den vielen Veränderungsdynamiken konstruktiv umzugehen. Das Startchancen-Programm ist zwar auf dem Papier gut ausdifferenziert – aber es wirkt gleichzeitig wie ein Überstülpen: Ich will einen Gugelhupf backen, aber wenn der Teig ausgerollt ist, werden daraus Zimtsternchen. Das passt nicht zusammen: Die Ziele, die wir erreichen wollen, passen nicht zu den bisherigen Maßnahmen des Programms. Und das in einer Zeit, in der Kinder und Jugendliche unter völlig veränderten und sich auch rasant weiter verändernden Bedingungen aufwachsen. Das ist keine neue Entwicklung – wir sehen es im Nationalen Bildungsbericht: Die Quote der Schulabbrecher:innen steigt weiter, die Zahl derer ohne Berufsabschluss verdreifacht sich. Wir beobachten eine Fortsetzung des sozialen Abstiegs. Und das möchte ich betonen: Die Kommune ist für mich der zentrale Ort, an dem Bildung tatsächlich stattfindet. Und damit meine ich nicht nur die kommunale Verwaltung oder Politik. In diesen Räumen gibt es engagierte Menschen, die versuchen, diese schwierige Situation für Kinder, Jugendliche und ihre Familien zu erleichtern. Aber sie werden nicht systematisch eingebunden. Stattdessen machen wir wieder Lese-Bänder, Mathe-Bänder, und Demokratieeinheiten. Aber die zentrale Frage bleibt: Was braucht das Kind – an diesem Tag, in dieser Situation? Und genau da, finde ich, ist das Programm noch lange nicht angekommen.

 

REAB NRW: Welche strukturellen Voraussetzungen müssten geschaffen werden, um trotz föderaler Hürden zu tragfähigen, kommunal verankerten Bildungskooperationen zu kommen, die auch dem Startchancen-Programm zugutekommen? 

S. Süß: Tja, das betrifft die unterschiedlichen Austauschebenen – auch auf der Ebene der Länder. Wenn man hier über die Steuerungsebene etwas aufsetzen könnte, also zum Beispiel in Steuerungsrunden kommunale Vertreter:innen systematisch mit einbinden würde, genauso wie zivilgesellschaftliche Akteure – dann wäre schon viel gewonnen. Ich würde sagen: Da besteht durchaus noch eine Chance. Die wissenschaftliche Begleitung fängt gerade erst an, sich mit genau diesen Themen auseinanderzusetzen. Aus meiner Perspektive – und ich habe dazu auch schon Gespräche geführt – gibt es also noch die Möglichkeit, diese Perspektiven jetzt einzubringen. Vor allem jene Fragen, die wir hier diskutieren, könnten so auf einer anderen Ebene weitergetragen werden. Natürlich können wir als zivilgesellschaftliche Organisationen und Engagierte auch auf der lokalen Ebene etwas tun – und wir werden da auch nicht nachlassen. Auch die Kommunen werden, spätestens wenn sie finanziell stärker eingebunden sind, einen Weg finden müssen. Aber wir sollten den Blick auch nochmal auf das Ende des Programms nach zehn Jahren richten. Denn wenn es sogar in den neuen Koalitionsvertrag mit Blick auf die frühkindliche Bildung aufgenommen wurde, dann muss eine stabile, tragfähige Basis geschaffen werden. Und genau das muss jetzt mitgedacht werden.

C. Wieda: In den Schulministerien liegt der Schlüssel, um über Verordnungen, Erlasse oder Gesetzesänderungen, Zusammenarbeit auf Augenhöhe mit dem Schulträger, der Jugendhilfe und der Zivilgesellschaft zu ermöglichen und voranzutreiben. Deshalb wären die Länder gut beraten, diese Schnittstellen – wenn Sie es nicht schon tun – systematisch zu analysieren und im Rahmen des Startchancen-Programms aktiv zu gestalten. Es geht darum, bestehende Strukturen aufzubrechen, selbstverständlich gemeinsam Probleme anzugehen und das als systemisches Zusammenspiel zu verstehen. Ich kenne erfolgreiche Projekte, bei denen das gelungen ist – aber diese hängen davon ab, ob zufällig Menschen zusammenfinden, die die gleichen Ziele verfolgen, und davon, inwieweit Politik diese Prozesse unterstützt. Aus meiner Sicht hätte das Programmdesign sich bereits vor drei Jahren dieser Problematik widmen müssen, zusammen mit kommunalen Vertreter:innen. Jetzt wird es allerhöchste Zeit.

 

REAB NRW: Welche konkreten Schritte sind aus Ihrer Sicht auf kommunaler Ebene erforderlich, um Programme wirksam umzusetzen? 

S. Süß: Bildung muss zur kommunalen Pflichtaufgabe werden. Und sie muss ganzheitlich gedacht werden – sonst werden wir weder die Fachkräftesicherung gewährleisten noch den gesellschaftlichen Zusammenhalt aufrechterhalten können.

C. Wieda: Es gibt nicht umsonst die kommunale Selbstverwaltung: Sie ist dafür da, vor Ort – mit Blick auf die eigene Bevölkerung – bessere und passgenauere Lösungen zu entwickeln als das zentral möglich wäre. Eine Kommune als Lebens- und Lernort, mit ihren schulischen und außerschulischen Institutionen muss responsiv sein – das heißt: flexibel, bedarfsgerecht und zugewandt auf die tatsächlichen Bedürfnisse von Kindern und Familien reagieren können. Doch die Realität ist oft eine andere: Viele Kommunen haben finanziell und personell gerade noch, und wahrscheinlich nicht mehr lange, die Nase über dem Wasser. Sie benötigen Ressourcen, um sich den Herausforderungen weiter zu stellen. Hier bedarf es konkreter Entlastung und Unterstützung durch Land und Bund, die nicht mit administrativer Belastung der Kommunalverwaltung einhergeht. 

 

Zum Seitenanfang